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Nordkap

Während Wojtek bereits am Abend den Weg über die norwegische Grenze beschritt, wollte ich noch einmal in den Genuss einer kostenlosen finnischen Hütte kommen und ließ mich am Anarjohka nieder, der Norwegen und Finnland voneinander trennt. Ok, da es gleich etwas religiöser wird, will ich mal lieber nicht lügen. Der wahre Grund war, dass der örtliche “Alko”, welcher in Finnland das Staatsmonopol zum Verkauf von höherprozentigem Alkohol besitzt, bei meiner Ankunft bereits geschlossen hatte. Ich wollte mir aber unbedingt noch vor der Grenze einen halbwegs bezahlbaren “guten Tropfen” zum Anstoßen am Nordkap organisieren.

Spontanbesuch aus Cottbus und Empfangskomitee in Norwegen

Am Vortag hatte mich Rossi, ein Kumpel, den ich durch mein Fan-Dasein bei Energie Cottbus kenne, unverhofft angeschrieben. Er wusste, dass ich mich momentan in der Gegend herumtreibe und unternahm grade selbst mit 2 anderen Kumpels einen Road Trip zum Nordkap. Den Rückweg wollten sie über Finnland bestreiten. Direkt getroffen hätten wir uns zwar eigentlich nicht, aber Rossi legte kurzerhand einen kleinen Umweg ein und steuerte meine Hütte an.

Beim gemeinsamen Frühstück redete man über dies und das und jenes. Vor allem natürlich über die schwere Zeit beim heimischen Fußballverein.
Dessen Auftaktsieg in die neue Saison bejubelte ich dann übrigens vor dem digitalen Hörfunkgerät während der ersten Kilometer durch Norwegen.

Während der Radioübertragung fuhr auf einmal ein dunkler SUV langsam neben mir. Der Fahrer ließ die Scheibe herunter und fragte: “Hey, are you Willy?”. Oha, der Blog interessiert zwar weit mehr Leute, als ich anfangs dachte, aber, dass ich jetzt schon auf der Straße in Norwegen angesprochen werde, erscheint mir doch irgendwie merkwürdig. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem Fahrer um Magnus, meinen Couchsurfing-Gastgeber für heute. Dieser war grade zufällig zum Einkaufen von seinem etwa 30 Kilometer entfernten Haus in Karasjok über die finnische Grenze gefahren. Er nahm mir für das letzte Stück Weg ein bisschen Gepäck ab und empfing mich dann bei sich zu Hause.

Naja, sein eigentliches zu Hause ist in Oslo. Dort studiert Magnus Theologie. Hier im Norden arbeitet er als Pfarrer der evangelischen Kirche. Die haben nämlich keinen mehr, der das hauptberuflich machen will. Das Angebot der Freizeitgestaltung ist hier vielleicht nicht ganz so üppig wie im Süden des Landes und auch die Verkehrsanbindung kann wohl kaum als ausschlaggebendes Argument dienen, um den geistlichen Nachwuchs in diese Breitengrade zu locken.

Hier ergriff ich, als unmissionierter, im Wald lebender Heide, einmal die Chance, mir die beiden Kirchen des Ortes von innen zeigen zu lassen. Die größere ist wohl das älteste noch existierende Gebäude der Finnmark-Region (Bundesstaat im nördlichen Norwegen), da sie im Krieg nicht zerstört wurde. Außerdem war es sehr interessant, Magnus über seine Arbeit “hier oben” auszufragen. Auch, wenn ich ganz sicher nicht christlich bin, interessierte es mich sehr, was er hier oben alles zu tun hatte. Denn, wenn du schon einer der wenigen Pfarrer in diesem Gebiet bist, musst du halt auch mehrere hundert Kilometer in verschiedene Orte reisen und erlebst dabei so manche kuriose Geschichte.

Als Kontrast zu diesem kulturellen Höhepunkt der letzten Wochen meiner Reise dezimierten wir abends gleich mal die Liter-Flasche Wodka, welche Rossi mir aus seinen Vorräten überlassen hat. Auch Magnus Einkauf in Finnland bestand nicht nur aus Oblaten…

Kälte, Berge und Mülltonnen

Während man sich in Lappland bei bis zu 30 Grad gar nicht so vorkam, als sei man weit nördlich des Polarkreises, machte das nördliche Norwegen seinem Ruf alle Ehre. Der Wind weht hier eigentlich immer recht stark und kommt zu 90% aus Norden. Das Problem war nur, dass ich genau da hin wollte. Auch die Berge, die natürlich für ein wunderschönes Panorama sorgten, machten die Sache nicht grade einfacher. Glücklicherweise wurde es hier zu dieser Jahreszeit nicht dunkel. Ich konnte also sehr lange fahren, auch wenn ich selten mehr als 10 Kilometer in der Stunde absolvierte.

Einmal hatte die geringe Geschwindigkeit zur Folge, dass ich es nicht mehr bis zum nächsten Supermarkt schaffte und mich bereits damit abfand, heute von meiner Instant-Notration, die immer in der hinteren linken Fahrradtasche ist, Gebrauch zu machen. Als ich grade nicht weit von der Straße mein Zelt aufbaute, kam angenehmerweise Erwin vorbei. Es reist ebenfalls mit dem Fahrrad. Allerdings hat er dieses erst in Schweden, für umgerechnet 50 Euro, erstanden. An Stelle von hochwertigen Satteltaschen, wie sie die meisten Radreisenden haben, hatte Erwin lediglich einen Trekking-Rucksack mit Hilfe eines Gestells, dass er sich aus zwei Wanderstöcken gebastelt hatte, an seinem Rad befestigt. Das führte dazu, dass ich ihn zunächst für einen Einheimischen hielt. Ich habe wahrscheinlich unterbewusst gedacht, dass ja keiner ernsthaft mit so einer Konstruktion länger unterwegs sein kann.

Wir kamen ins Gespräch, waren auf Anhieb auf einer Wellenlänge und er entschloss sich, neben mir zu zelten. Erwin passierte, aus entgegengesetzter Richtung kommend, jüngst das Lebensmittelgeschäft, welches ich nicht mehr zu erreichen vermochte.

Allerdings hatte dieses am Sonntag sowieso zu. Deshalb kramte er einfach in den Mülltonnen des Ladens nach Essbarem. Seine Beute war dabei mehr als reichlich. Neben Gemüse, welches in Norwegen unheimlich teuer ist, aber auch bei den geringsten Mängeln bereits stark reduziert oder eben weggeworfen wird, und Bacon, zog er auch mehrere Kilo Schweine-Steaks aus den Containern. Diese waren bereits ein paar Tage abgelaufen, weshalb wir sie vor der Zubereitung einem kritischen Geruchstest unterzogen. Etwa die Hälfte wurde dabei aussortiert. Den mit dem Prädikat “still okay” versehenen Rest bereiteten wir im Slow-Cook-Verfahren zu. Dabei konnte die Kochzeit gerne etwas länger sein, richtig sicher ob der Fleischqualität waren wir uns nämlich nicht. Ich schlief jedenfalls vorsichtshalber mit einer Rolle Toilettenpapier neben dem Kopfende meiner Isomatte. Allerdings ging diesbezüglich alles gut.

Den Abend verbrachten wir dann, auf der Flucht vor dem Regen, in einer nahe gelegenen Bushaltestelle. Wir tranken Wodka, aßen mit den Fingern aus dem gleichen Topf und flatulierten dabei fröhlich vor uns hin. Wir verstanden uns auf Anhieb so gut, es war irgendwie, als ob wir verwandt wären. Aber auf Grund der eindeutigen optischen Ähnlichkeit zwischen meinem Opa, meinem Vater und mir, kann ich unmöglich aus seinem Heimatland, den Niederlanden, adoptiert worden sein.

Auch Erwin’s “Beruf” ist etwas, dass ich mir durchaus für meine eigene Zukunft vorstellen könnte. Er ist freiberuflicher Abenteurer, Reisejournalist und Buchautor. Ich genoss es sehr, mich mit ihm zu unterhalten. Leider musste er am nächsten Tag in eine andere Richtung weiterfahren und ich hatte ja weiter ein Ziel vor Augen.

Kraftakt ans Nordkap

Die letzte Etappe ans Nordkap sollte zu einem der anstrengendsten Dinge werden, die ich je unternommen habe. Ich ließ mir etwa 90 Kilometer für diesen Tag “übrig”. Da ich normalerweise deutlich mehr fahren kann, sollte das ja eigentlich kein Problem sein, auch wenn, wie ich wusste, der Weg dorthin recht anstrengend ist.

Die erste Hürde, die es zu bewältigen galt, war der berüchtigte Nordkaptunnel. Dieser ist satte 6875 Meter lang und führt an seiner tiefsten Stelle 212 Meter unter dem Meeresspiegel entlang. Das bedeutet, dass es erst etwa 3 Kilometer bei 9% Steigung bergab, dann ein Stück geradeaus und anschließend etwa 3 Kilometer bei 10% Steigung wieder bergauf geht. So ist die Insel, auf der das Nordkap liegt, mit dem Festland verbunden.

Es war schon ein echt merkwürdiges Gefühl, da durchzufahren. Zwar war ich mir sicher, von dem von hinten kommenden motorisierten Verkehr wahrgenommen zu werden, da ich mittels Kopflampe, Helmlampe, Warnweste etc. beleuchtet war wie der berüchtigte “Tanneboam”, trotzdem hörte sich jedes noch so kleine Auto im Tunnel an wie ein LKW.

Außerdem war es auch ein merkwürdiges Gefühl, unter dem Meer zu fahren. Dies berichteten mir eigentlich auch alle anderen Radler, die ich später noch treffen sollte. Nicht zu vernachlässigen ist natürlich ebenfalls der krasse Anstieg ab der Hälfte des Tunnels. Da kommt man schon wirklich in Schwitzen, grade weil man bei der Abfahrt doch einiges an hat. Allerdings habe ich mir einfach gedacht, dass ich das jetzt durchziehe ohne abzusteigen und mich zu entkleiden. Es kam mir zwar vor wie eine halbe Ewigkeit, dort im tiefsten Gang meines Fahrrades dem Licht entgegen zu strampeln, aber schließlich hatte ich es doch geschafft, ohne einmal anzuhalten.

Am Tunnelausgang kam mir dann Wojtek entgegen, mit dem ich in Finnland ein kleines Stück zusammen gefahren bin.

Nun ging ich eigentlich davon aus, das gröbste geschafft zu haben. In Honningsvåg, wo sich der letzte Supermarkt vor dem Kap befindet, frischte ich noch einmal meine Vorräte auf. Hier wurde mir nochmal ganz deutlich, dass ich bei weitem nicht der einzige Radler mit diesem Ziel bin. Die Längsseite der großen Kaufhalle war geradezu mit bepackten Reiserädern tapeziert. Von den Radlern, die ich dort kennenlernte, schaffte es an diesem Abend aber keiner mehr ans Ziel.
Auch ich tat es mir mit den letzten etwa 30 Kilometern richtig schwer.

Grund hierfür war einerseits das Terrain. Hier waren noch einmal zwei richtig knackige Anstiege zu bewältigen, welche dem Nordkapptunnel weder in Sachen Steigung noch in der Länge unterlegen waren. Auch dazwischen ging es immer wieder auf und ab.
Außerdem kann man sich in dieser Gegend, wie bereits erwähnt, sehr sicher sein, dass der Wind aus Norden, also entgegen der Fahrtrichtung, weht. Und wehen, das tut er hier immer. Laut Wetterbricht waren die Böen an diesem Tag etwa 30 bis 40 Kilometer in der Stunde schnell. Das machte mir ganz schön zu schaffen. Zwar bestand keinerlei Zeitdruck im Hellen das Nordkap zu erreichen, da zu dieser Zeit die Sonne hier sowieso nicht untergeht, aber irgendwann wollte ich dann halt auch mal ankommen.

Zusätzlich trieb mich noch der Ehrgeiz, die beiden deutschen Radler, die eine halbe Stunde vor mir in Honningsvåg gestartet sind, einzuholen. Keine Chance, ich hab sie nicht mal gesehen. Das lag allerdings daran, dass sie bereits beim Anblick des ersten großen Anstieges abbrachen und irgendwo abseits der Straße zelteten, wie ich später erfuhr.

Für den mühsamen Weg wurde ich auch mit so manchem geilen Ausblick belohnt. Glücklicherweise war es jetzt noch nicht so bewölkt. Auch die entgegenkommenden Auto- und Wohnmobilfahrer waren sehr motivierend. Immer wieder wurde ich gegrüßt oder mir wurden Durchhalteparolen zugerufen.
Relativ entkräftet und mit zwischenzeitlichen Krämpfen in den Waden erreichte ich dann gegen 10 Uhr abends am 30.07.2019 mein Ziel.

Kaperimiten

Direkt nach meiner Ankunft steuerte ich den bekannte Globus an, um bei der grade sehr guten Sicht ein Foto zu machen. Dabei lernte ich ein schwäbisches Pärchen kennen, das mit dem Wohnmobil unterwegs war und noch dazu gut fotografieren konnte. Als ich also grade mit meinem Rad und einem Fußballschal posierte und versuchte, trotz des heftigen Windes ein paar einigermaßen passable Aufnahmen an diesem symbolträchtigen Ort anfertigen zu lassen, kam noch ein weiteres Hindernis hinzu – eine Busladung Chinesen. Diese begannen ebenfalls Fotos von mir zu machen. Gut, wer will es ihnen verübeln? Das weitaus größere Problem war, dass diese nicht mal eben eine Minute warten wollten, bis ich mich dort fotografisch verewigen konnte, sondern einfach neben mich auf die Plattform sprangen. Es ist wohl vor allem der Durchsetzungskraft meiner süddeutschen Fotografin zu verdanken, dass ich nun auch im Besitz eines guten Fotos ohne andere Menschen auf meinem Gepäckträger bin.

Nachdem ich von den beiden glücklicherweise noch einen heißen Tee bekommen habe, schlug ich mein Zelt hinter einem kleinen Hang an der windabgewandten Seite des Kaps auf. Windig war es trotzdem. Und kalt! 5-6 Grad war hier (im Sommer!) die Tageshöchsttemperatur. Durch den Wind und den später einsetzenden Regen wirkte das alles noch bedeutend ungemütlicher. Aber ich will mich nicht beschweren. Schließlich ist der Besuch des Nordkaps für Radfahrer und andere Reisende, welche den Weg aus eigener Muskelkraft zurücklegen, wenigstens kostenlos. Autofahrer werden hingegen mit etwa 30 Euro pro Nacht recht ordentlich zur Kasse gebeten.

Zum Aufwärmen ging ich, wie alle anderen auch, tagsüber in die Nordkaphallen. Hier gibt es verschiedene Bars und Restaurants mit Panoramafenstern, eine Ausstellung, eine Post und Toiletten. Im Restaurant- und Sitzbereich bildete sich dann so langsam ein Radfahrertisch. Alle waren geschafft und wollten sich ausruhen. Hier traf ich auch die beiden Deutschen wieder, welche ich am Tag zuvor chancenlos von Honningsvåg aus verfolgt hatte. Da wir alle nicht so über das große Geld verfügten, wurden natürlich die eigenen Speisen und Getränke verzehrt. Der Bitte des Kellners, dies zu unterlassen, wurde indes nicht Folge geleistet. Allerdings war er auch nicht sehr hartnäckig in seinem Anliegen.

Optisch, und mit Sicherheit auch geruchlich, unterschied sich die Fahrradfraktion deutlich vom normalen Nordkap-Touristen. Man stank, war sich dessen bewusst und wohl auch dezent stolz darauf. Diesen Geruch hatte man sich schließlich hart erarbeitet. Ich habe das Nordkap eigentlich nie als Ziel meiner Reise, sondern lediglich als einen Punkt davon, angesehen. Im Nachhinein kann ich aber nicht leugnen, dass es mir schon sehr viel bedeutete, hier angekommen zu sein.

Ein weiterer Höhepunkt und auch ein gewisses Statement als Ausdruck unseres Lifestyles war es, als wir nachts um 1 Uhr auf dem Parkplatz Nudeln kochten, heißen Apfelsaft mit Wodka tranken und uns dabei vor dem Wind und der Kälte (mittlerweile nur noch 3 Grad Celsius) hinter Müllcontainern versteckten. Das ist für mich 1000mal schöner als der All-Inclusive Badeurlaub am Mittelmeer.

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