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Estland – Gestrandet in Tallinn

Auch im nördlichsten Staat des Baltikums bin ich zunächst der Ostseeküste gefolgt. In Pärnu, der ersten größeren Stadt, die ich passierte, gönnte ich mir erstmal eine neue Fahrradhose. Grund dafür war, dass die Schmerzen am Allerwertesten in letzter Zeit wieder zunahmen. Diese ist deutlich besser gepolstert als die alte und führte dazu, dass ich wieder längere Zeit am Stück ohne Probleme im Sattel sitzen konnte. Da waren mir die 85 Euronen in diesem Moment auch ziemlich egal.

Inselkinder

Da auch in Tallinn wieder Besuch anstand und ich weit vor meinem nicht vorhandenen Zeitplan lag, entschied ich mich, den beiden estnischen Inseln Saaremaa und Hiiumaa einen Besuch abzustatten.

Erstere ist dabei deutlich größer und ein beliebtes Urlaubsziel in- und ausländischer Touristen. Allerdings war es auch nicht so überlaufen, dass ich es dort als unangenehm empfunden hätte. Zu den Highlights zählen sicherlich die Steilküste im Norden und die Stadt Kuresaaree im Süden der Insel. Außerdem gibt es, wie überall in Estland, den ein oder anderen kostenfreien Zeltplatz. Zwar gilt hier auch eine Art Jedermannsrecht, wie man es aus Skandinavien kennt, doch das Plumpsklo und der überdachte Tisch sind schon echt luxuriöse Einrichtungen, über die man sich nach einem langen Tag auf dem Fahrrad sehr freut.

Auf Hiiumaa lud ich mich mal wieder bei einer jungen einheimischen Familie ein. Zufälliger Weise fiel der 23. Juni genau in meinen dortigen Aufenthalt. An diesem Datum wird in Estland die Mittsommernacht gefeiert. Traditionell finden dazu in ländlichen Gegenden große Feuer statt, bei denen die Dorfgemeinde bei Livemusik zusammenkommt. Wir grasten gleich mehrere dieser Veranstaltungen ab. Ich weiß noch, dass es mal wieder Selbstgebrannten gab. Den nächsten Tag nutzen die Esten zum Ausnüchtern, denn es ist Johannistag (Jannipäev) und somit landesweiter Feiertag.

Dies spielte für meine Gastgeber keine Rolle, da sie sowieso nicht arbeiten und dies in näherer Zukunft auch nicht beabsichtigen. Sie bevorzugen eben eher einen etwas anderen Lebensstil, haben schon in besetzten Häusern und in Höhlen auf den Kanaren gehaust. Jetzt sind sie zurück in der Heimat und wohnen in einem kleinen Haus, dass sie von ihren Großeltern geerbt haben.

Grundsätzlich finde ich solche Lebensstile ja sehr sympathisch. Nur die Kindererziehung der beiden fand ich dann doch eher fragwürdig. Der kleine Teufel konnte quasi machen, was er wollte. Dass er den ganzen Tag nackt rumgerannt ist und überall dort defäkierte, wo es ihm grade passte, war ja noch durchaus sympathisch. In gewisser Weise weckte es auch Heimatgefühle, schließlich geht es bei so mancher Busfahrt zum Auswärtsspiel meines Lieblingsvereins, Energie Cottbus, nicht viel anders zu.

Etwas befremdlicher fand ich es dann schon, dass der Bengel ins Bett gehen konnte, wann er wollte. Ob es so gut ist, mit 3 Jahren regelmäßig bis früh um 1 aufzubleiben? Na ja, ich bin kein Kinderarzt. Auch Essen wurde meist nicht für ihn gemacht. Er nahm sich einfach das aus dem Kühlschrank, worauf er grade Lust hatte. Hier kam ich zu einem Punkt, an dem mir die Kindererziehung der beiden nicht mehr einerlei war, denn er wollte natürlich immer genau das essen, was ich in den dort hinein tat. Bei der Nahrungsaufnahme verstehe ich ja bekanntlich keinen Spaß und kann bisweilen einen ordentlichen Futterneid entwickeln. Sein Glück war in diesem Fall wohl sein Alter.

Neue Freunde aus dem Wald

Weiter ging es Richtung Tallinn, wo mein Essen wieder sicher war. Etwa 40 Kilometer vor der estländischen Hauptstadt fand ich mich nach langer Suche relativ spät auf meinem Lagerplatz ein. Wieder einmal wählte ich dazu einen kostenlosen Zeltplatz, diesmal an einer Flussschleife mitten im Wald gelegen. Hier, mitten im Nirgendwo, war bereits ein anderes Zelt aufgebaut. Als ich ankam, dämmerte es aber bereits und dessen Bewohner befanden sich schon in der Waagerechten. Allerdings ließen es sich Kathrin und Jens, die Personen hinter der Zeltwand, nicht nehmen, mich kurz auf dem Gelände willkommen zu heißen. Dabei erfuhr ich, dass sie grade von Kassel aus einmal um die Welt trampen. Tiefgreifendere Gespräche verschoben wir aber auf den nächsten Morgen.

Beim gemeinsamen Frühstück unterhielten wir uns dann recht lange und entschieden, auch wegen des Regenwetters, noch eine Nacht hier zu verbringen und gemeinsam Pizzabrote auf dem vorhandenen Grillofen zu backen. Die besagten Campingplätze haben nämlich meist auch Grillmöglichkeiten und noch dazu kostenloses Feuerholz.

Kathrin und Jens haben auch einen Blog, auf dem sie ihre Reise vorstellen. Wer mehr darüber erfahren will, kann hier nachschauen.

Erste Verschleißerscheinungen

Als ich bei Regen und Gegenwind die letzten Kilometer Richtung Tallinn zurücklegte, merkte ich, dass mein Hinterrad wieder etwas schleift. Also entschied ich, dass es mal wieder Zeit ist, die Speichen zu checken.

Erst einmal hieß ich jedoch meine Freunde Holsten Paule und Schlinkmann willkommen, welche sich spontan für ein paar Tage angekündigt hatten. Gemeinsam erkundeten wir die Stadt. Allerdings konnte uns diese nicht wirklich aus den Socken hauen. Tallinn versucht in meinen Augen sehr kosmopolitisch zu sein, verliert dabei aber irgendwie die eigene Identität. So konnte ich, als auch viele andere, mit denen ich darüber gesprochen habe, nicht wirklich viel finden, dass die estnische Hauptstadt zu etwas Besonderem macht.

Ein Beispiel hierfür ist die örtliche Restaurantlandschaft. Wenn ich reise, möchte ich möglichst die Landesküche kennenlernen. Die gibt es in Tallinn durchaus, allerdings fast ausschließlich in der von Touristen überlaufenen Altstadt. Dort bekommt man ein Essen meist ab 20€ aufwärts. In weniger touristischen Teilen der Stadt konnten wir allerdings keine landestypischen Restaurants ausfindig machen. Auch der Konsum von Alkohol ist in Estland eine teure Angelegenheit, aber ich muss mich ja sukzessive an das skandinavische Preisniveau gewöhnen.

Zwei Tage später sollte dann meine Freundin Caro zu Besuch kommen (die ganz toll ist, was ich nicht etwa schreibe, weil ich dazu gezwungen werde), um sich persönlich davon zu überzeugen, dass ich trotz der vielen Nächte im Wald noch ein Mindestmaß an zivilisatorischen Umgangsformen beherrsche. Zu diesem besonderen Anlass habe ich extra eine kleine Hütte irgendwo an der Ostsee, 30 Kilometer außerhalb Tallinns, gebucht. Als ich mein Fahrrad fit machen wollte, um möglichst zeitig dort zu sein, fiel mir auf, dass das Schleifen keineswegs von den Speichen kam, sondern viel mehr davon, dass die Felge gleich an mehreren Stellen gerissen war. Autsch!

Planänderung

Da es Samstagmittag war und die Esten zwar vieles sind, nicht aber besonders schnell oder flexibel, konnte man meine Felge nicht auf der Stelle tauschen, sondern benötigte dazu ein paar Tage. Also ließ ich einige meiner Sachen dort und machte mich mit 3 meiner 6 Fahrradtaschen auf den Weg. Mittlerweile war Caro auch gelandet. Wir telefonierten kurz und entschieden, nicht in dem gebuchten Bungalow zu nächtigen, sondern die komplette Woche in Tallinn zu bleiben. Glücklicherweise war die Hütte noch kostenfrei stornierbar.

Unsere Entscheidung rührte vor allem daher, dass ich keine Lust hatte, meine Fahrradtaschen dorthin zu schleppen. Außerdem war auch die nächste Einkaufsmöglichkeit zu weit entfernt, um dort regelmäßig hin zu laufen. Gut war, dass wir so noch etwas mehr Zeit mit Paule und Schlinki verbringen konnten, da diese ebenfalls noch ein paar Tage in der Stadt verweilten. Auch Kathrin und Jens trafen wir zufällig wieder.

Details über weitere Aktivitäten in Tallinn spare ich mir an dieser Stelle mal, pornografische Inhalte gibt es ja nun wirklich genug im Netz.

Mein persönliches Fazit über Estland fällt, wie ihr vielleicht schon zwischen den Zeilen herauslesen konntet, eher durchwachsen aus. Dies soll allerdings keinen von einer Reise hierher abhalten. Es kann auch gut sein, dass ich mich einfach schon zu lange im Baltikum aufgehalten habe und die Zeit künstlich ausdehnen musste, da sich immer wieder Besuch ankündigte und ich auf diesen warten musste. Es ist natürlich auch sehr schön, wenn Freunde einen auf längeren Reisen besuchen kommen. Allerdings würde ich es beim nächsten Mal so machen, dass die Leute entweder spontan sein müssen und eben dort hinkommen, wo ich mich grade befinde, oder sich selbst auf den Sattel schwingen und neben mir her radeln müssen.

Bevor es sich hier im nächsten Blogeintrag um Finnland handeln wird, möchte ich noch eine Frage beantworten, die mir in letzter Zeit von so einigen Leuten gestellt wurde:

“Wie finanzierst du das, Willy?”.

Naja, zum einen habe ich etwas Geld gespart. Ohne das geht es nun mal leider nicht. Allerdings lebe ich auch sehr sparsam. So habe ich beispielsweise in einem knappen Monat, den ich von Vilnius bis Tallinn geradelt bin, nicht einmal 50€ für Unterkünfte ausgegeben. Das ist möglich, wenn man viel wild zeltet oder wie auch immer bei Privatpersonen unterkommt. Die wenigen Nächte, die ich auf Campingplätzen oder in Hostels verbracht habe, versuchte ich stets den Übernachtungspreis runter zu handeln, was im Baltikum in den meisten Fällen klappte. Man muss also keinen Dukatenscheißer zu Hause haben, um mal ein paar Monate mit dem Fahrrad zu verreisen.

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